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Mitten in die laue Nacht Indiens platzte ein Eindringling durch die Bambustür der einfachen Lehmhütte. Es war ein Impfbeamter von der Regierung, der den Auftrag hatte, den Widerstand gegen die Pockenimpfung zu brechen. Lakshmi Singh erwachte mit einem Schrei und huschte in ein Versteck. Ihr Mann sprang aus dem Bett, ergriff eine Axt und scheuchte den Eindringling vom Hof.

Draußen wurde Mohan Singh von einem Trupp Ärzten und Polizisten rasch überwältigt. Kaum lag er am Boden, stieß ein zweiter Impfbeamter ihm die Pockennadel in den Arm.

Mohan Singh, ein 40jähriger drahtiger Anführer des Stammes Ho, wand sich unter der Nadel, worauf die Impfstelle zu bluten begann. Die Regierungsmannschaft hielt ihn fest, bis genügend

Impfstoff injiziert war; dann packten sie seine Frau. Mohan Singh hielt kurz inne, - um den Impfstoff auszusaugen, bevor er eine Bambusstange vom Dach herunterriß und auf die Fremden losging, die seine Frau festhielten.

Während zwei Polizisten ihn zurückstießen, überwältigte das restliche Kommando die ganze Familie und impfte einen nach dem anderen. Lakshmi Singh biß dem einen Arzt tief in die Hand, aber es nützte nichts.

Als alles vorbei war, versammelte sich unser Impfteam auf dem kleinen Hof. Mohan Singh stand mit seiner erschöpften Familie neben der zerbrochenen Haustür. Wir sahen uns schweigend über eine kulturelle Schranke hin an,- keine Seite wußte, was als nächstes zu tun sei. So ein Vorkommnis - einen nächtlichen Überfall mit gewaltsamer Pockenimpfung - hatte es noch nie gegeben.

Mohan Singh warf einen Blick über seinen durcheinander geratenen Haushalt und dachte nach. Einen Moment zögerte er. Dann ging er auf sein kleines Gemüsebeet zu und bückte sich, um die einzige reife Gurke an der Ranke zu pflücken. Er befolgte das Gastfreundschaftsgesetz seines Stammes und ging auf den verdutzten jungen indischen Arzt zu, den seine Frau gebissen hatte, und reichte ihm die Gurke.

Ich stand im Schatten und versuchte, den Sinn dieser seltsamen Begegnung zu enträtseln. Ich wandte mich an Zafar Hussein, einen- muslimischen Arzthelfer, den die indische Regierung mir als Führer und Übersetzer beigestellt hatte. Was um alles in der Welt hatte die Gurke zu bedeuten? In Hindi gab Zafar meine Frage an einen der Impfer, einen westlich erzogenen Ho-Jugendlichen weiter, der Mohan Singh in dem Stakkato-Rythmus der tonalen Ho-Sprache herausforderte.

Mit großer Würde stand Mohan Singh da, stocksteif wie ein Besenstiel. Inzwischen war das ganze Dorf wach, die Leute standen um den Hofschauplatz herum, während die aufgehende Sonne den Fortgang des Dramas erleuchtete. Mit sorgfältig gewählten Worten begann Mohan Singh:

"Mein Dharma (religiöse Pflicht) besteht darin, mich Gottes Willen hinzugeben. Nur Gott kann entscheiden, wer krank wird und wer nicht. Es ist meine Pflicht, mich eurer Einmischung in seinen Willen zu widersetzen. Wir müssen uns euren Nadeln widersetzen. Wir würden im Widerstand sterben, wenn das nötig ist. Meine Familie und ich haben nicht nachgegeben. Wir haben unsere Pflicht getan. Wir können stolz darauf sein, daß wir in unserem Glauben festgeblieben sind. Es ist keine Sünde, wenn man mitten in der Nacht von so vielen Fremden überwältigt wird. Ihr hingegen seid gekommen und habt mir gesagt, daß es euer Dharma ist, diese Krankheit mit euren Nadeln zu verhindern. Wir haben euch weggeschickt. Heute nacht habt ihr Gewalt angewendet. Ihr sagt, ihr handelt in Übereinstimmung mit eurer Pflicht. Ich habe in Übereinstimmung mit meiner gehandelt. Es ist vorbei. Gott wird entscheiden. Jetzt seid ihr, wie ich es sehe, Gäste in meinem Haus. Es ist meine Pflicht, Gäste zu bewirten. Zu dieser Zeit habe ich wenig anzubieten. Außer dieser Gurke."

Ich fühlte mich betäubt und zerrissen. Einen Moment fragte ich mich, ob ich auf der falschen Seite war. Mohan Singh war so fest in seinem Glauben, und doch war keine Spur von Ärger in seinen Worten. Ich suchte in den Gesichtern meiner Kameraden, ob jemand auf die Herausforderung von Mohan Singh antworten würde. Gedemütigt von der Glaubenskraft Mohan Singhs starrten alle auf den Boden.


Lawrence Billliant

 

Auszug aus dem Buch:  Geschichten, die der Seele gut tun von J.Kornfield/C.Feldman
erschienen im Verlag:   Herder,   ISBN 3-451-05013-0