Damit der Charakter eines Menschen wahrhaft außergewöhnliche Qualitäten offenbart, muss man das Glück haben, seine Tätigkeit während vieler Jahre beobachten zu können. Und wenn dieses Tun frei ist von jeglichen Eigennutzen und die ihn leitende Idee von beispiellosem Edelmut, wenn ferner sicher feststeht, dass er nirgendwoher Dank erwartet, und wenn er zu dem allen auf der Welt sichtbare Spuren hinterließ, dann hat man gewiss einen unfehlbaren Charakter vor sich.von Jean Giono (1895 –1970) übersetzt von Walter Tappolet aus: Französische Erzählungen des 20.Jahrhunderts dtv zweisprachig ISBN 3-423-09316-1
Vor
etwa vierzig Jahren machte ich eine lange Fußwanderung über
die jeglichem Tourismus völlig unbekannten Höhen der sehr alten
Alpen, die sich in die Provence hinein erstrecken.
Die Gegend wird begrenzt im Südosten
und Süden durch den Mittellauf der Durance zwischen Sisteron und Mirabeau;
im Norden durch den Oberlauf der Drome von der Quelle bis Die; im Westen
durch die Ebenen der Grafschaft Venaissin und das Vorgebirge des Mont-Ventoux.
Sie umfaßt den ganzen nördlichen Teil des Departement Basses-Alpes,
den Süden des Departement Drome und ein kleines Gebiet des Departement
Vaucluse.
Zu der Zeit, da ich meine große
Wanderung in diesem Ödland in 1200 bis 1300 Meter Höhe unternahm,
waren da karge und eintönige Heideflächen. Es wuchs nur der wilde
Lavendel.
Ich durchstreifte das Hochland, wo es
am breitesten war, und nach drei Tagen befand ich mich in einer trostlosen
Lage wie noch nie. Ich kampierte neben den Ruinen eines verlassenen Dorfes.
Ich hatte seit dem Vorabend kein Wasser mehr und mußte welches finden.
Die wie Wespennester dicht gedrängten Häuser, obzwar verfallen,
brachten mich auf den Gedanken, daß es hier einstmals eine Quelle
oder einen Brunnen gegeben haben müsse. Es gab auch eine Quelle, aber
sie war versiegt. Die fünf, sechs Häuser ohne Dächer, von
Wind und Regen zerstört, die kleine Kapelle mit eingestürztem
Türmchen, das alles war angeordnet wie in den lebendigen Dörfern;
aber alles Leben war daraus entwichen.
Es war ein schöner Junitag, mit viel
Sonne, aber in diesen ungeschützten und gegen den Himmel offenen Gegenden
blies der Wind mit unerträglicher Gewaltsamkeit. Sein Heulen in den
Skeletten der Häuser war das Heulen eines Raubtiers, das bei seiner
Mahlzeit gestört wird. Ich mußte aufbrechen.
Nach fünf Stunden Marsch hatte ich
noch immer kein Wasser gefunden, und nichts konnte mir die Hoffnung geben,
welches zu finden. Überall die gleiche Trockenheit, das gleiche dürre
Gras.
Da sah ich in der Ferne eine kleine schwarze
Silhouette stehen. Ich hielt sie für den Stumpf eines Baumes. Auf
gut Glück ging ich darauf zu. Es war ein Hirte. Etwa fünfzig
Schafe lagerten auf der heißen Erde und ruhten sich neben ihm aus.
Er gab mir zu trinken aus seiner Fellflasche,
und dann führte er mich zu seiner Hütte in einer Mulde der Hochebene.
Er holte ausgezeichnetes Wasser aus einem sehr tiefen natürlichen
Erdloch, über dem eine primitive Winde aufgestellt war. Der Mann sprach
wenig. Das ist so bei einsam lebenden Menschen; aber man spürte, daß
er seiner sicher war und dieser Sicherheit vertraute. Das war ungewöhnlich
in dieser Einöde. Er wohnte nicht in einer Schäferhütte,
sondern in einem Steinhaus. Man sah genau, wie durch seine Arbeit die Ruine,
die er bei seiner Ankunft vorgefunden hatte, ausgebessert worden war. Das
Dach war solid und wasserdicht. Der Wind, der daran rüttelte, erzeugte
auf den Ziegeln ein Rauschen wie am Meeresstrand.
Der Haushalt war aufgeräumt, das
Geschirr gewaschen, der Boden gekehrt, das Gewehr eingefettet. Die Suppe
kochte auf dem Herd. Ich bemerkte, daß er frisch rasiert war und
daß alle seine Knöpfe gut angenäht waren und seine Kleider
ausgebessert mit der peinlichen Sorgfalt, welche die Flicken unsichtbar
macht.
Er teilte seine Suppe mit mir. Als ich
ihm nachher meinen Tabaksbeutel anbot, sagte er er rauche nicht. Sein Hund,
ebenso schweigsam wie er, war freundlich ohne Unterwürfigkeit.
Er hatte sogleich seine Zustimmung gegeben,
daß ich die Nacht dableiben solle; das nächstgelegene Dorf war
mehr als anderthalb Tagemärsche von hier. Abgesehen davon kannte ich
die Beschaffenheit dieser seltenen Weiler hierzulande bereits zur Genüge.
Es gibt vier oder fünf, einer weit vom anderen entfernt, an den Abhängen
dieser Berge, im Buschholz der Steineichen, weltenweitab von den befahrbaren
Straßen.
Sie sind bewohnt von Köhlern, die
Holzkohle brennen. In solchen Ortschaften lebt es sich schlecht. Die Familien,
eng zusammengedrängt in einem äußerst rauhen Klima, im
Sommer wie im Winter, toben ihren Egoismus im engen Kreis aus. Der unbewußte
Ehrgeiz steigert sich zum allgegenwärtigen Wunsch, nicht in diesem
Ort bleiben zu müssen.
Die Männer bringen die Kohle auf
Lastwagen in die Stadt und kommen dann wieder. Unter diesem ständigen
Wechseldasein brechen die stärksten Charaktere zusammen. Die Frauen
hegen ständigen Groll.
Man streitet sich um alles, ebensosehr
um den Kohlenverkauf wie um die Bank in der Kirche, um die Tugenden, die
sich gegenseitig bekämpfen, um die Laster, die einander widerstreiten,
um die ständige allgemeine Vermischung von Laster und Tugend. Zu alledem
greift der ebenfalls unaufhörliche Wind noch die Nerven an. Es gibt
ganze Epidemien von Selbstmord und zahlreiche Fälle von Wahnsinn,
die tödlich enden.
Der Hirte, der nicht rauchte, holte einen
kleinen Sack und schüttete einen Haufen Eicheln auf den Tisch. Er
machte sich daran, sie genau zu untersuchen, indem er die guten von den
schlechten trennte. Ich rauchte meine Pfeife. Ich erbot mich, ihm zu helfen.
Aber er meinte, das sei seine Sache. Das war es in der Tat. Angesichts
der Sorgfalt, die er für seine Arbeit aufwandte, drängte ich
mich nicht auf. Damit erschöpfte sich unsere ganze Unterhaltung.
Als er einen ziemlich großen Haufen
guter Eicheln auf der Seite hatte, zählte er sie ab in Gruppen zu
zehn. Dabei schied er noch die kleinen aus und die mit einem winzigen Riß;
er prüfte sie sehr genau. Als er endlich hundert vollkommene Eicheln
vor sich hatte, hörte er auf, und wir gingen schlafen.
Im Zusammensein mit diesem Menschen breitete
sich Friede aus. Am anderen Morgen fragte ich ihn, ob ich noch den ganzen
Tag bei ihm ausruhen dürfe. Er fand das ganz natürlich oder vielmehr:
er erweckte den Eindruck, daß nichts ihn stören könne.
Ich hatte diesen Ruhetag nicht unbedingt nötig, aber ich war neugierig
und wollte noch mehr erfahren. Er trieb seine Herde aus dem Stall und führte
sie auf die Weide. Vor dem Weggehen tränkte er den Sack mit den sorgfältig
ausgewählten und gezählten Eicheln in einem Eimer Wasser.
Ich beobachtete, daß er anstelle
eines Steckens eine Eisenstange mitnahm, so dick wie der Daumen und ungefähr
anderthalb Meter lang. Ich tat so, als ob ich mich im Umherwandern ausruhte,
und ging auf einem Weg, der parallel zu seinem verlief. Die Weide für
seine Tiere befand sich in einer Mulde. Er überließ die kleine
Herde der Obhut des Hundes und stieg den Hügel hinan, wo ich dahinging.
Ich fürchtete, er käme, um mir Vorwürfe zu machen wegen
meiner Neugierde, aber keine Spur davon: dies war sein Weg, und er lud
mich ein, ihn zu begleiten, wenn ich nichts besseres vorhätte. Er
stieg noch zweihundert Meter weiter auf die Anhöhe.
Als er an einer bestimmten Stelle war,
zu der er hinwollte, begann er seinen Eisenstab in die Erde zu stoßen.
Er machte Löcher und legte in jedes eine Eichel hinein und machte
das Loch wieder zu. Er pflanzte Eichen.
Ich fragte ihn, ob das Land ihm gehöre.
Nein, antwortete er. Ob er wisse wem es gehöre. Er wußte es
nicht. Er vermute, daß
es Gemeindeland sei, oder vielleicht gehöre
es Leuten, die sich nicht darum kümmerten. Ihn focht es nicht an,
daß er die Besitzer nicht kannte. So setzte er hundert Eicheln mit
größter Sorgfalt.
Nach dem Mittagsmahl nahm er seine Sämannsarbeit
wieder auf. Ich muß wohl sehr hartnäckig gewesen sein mit meinen
Fragen, daß er darauf antwortete. Seit drei Jahren pflanzte er Bäume,
hier in dieser Einsamkeit. Er hatte bereits hunderttausend gepflanzt. Von
den hunderttausend hatten zwanzigtausend getrieben. Von diesen zwanzigtausend,
damit rechne er, werde er noch die Hälfte verlieren durch die Nagetiere
oder durch Umstände, die nicht vorauszusehen sind in den Plänen
der Vorsehung. Es blieben also zehntausend Eichen, die wachsen würden
da, wo es vorher nichts gegeben hatte.
Ich fragte mich, welches Alter dieser
Mann wohl habe. Offenbar war er über fünfzig. Fünfundfünfzig,
sagte er mir. Er hieß Elzeard Bouffier. Er hatte einen Bauernhof
besessen, in der Ebene unten. Dort hatte er sein Auskommen gehabt. Er hatte
seinen einzigen Sohn verloren, dann auch seine Frau. So hatte er sich in
die Einsamkeit zurückgezogen, wo er Gefallen daran fand, beschaulich
zu leben mit seinen Schafen und seinem Hund. Er hatte sich überlegt,
daß diese Gegend absterben werde aus Mangel an Bäumen. Er setzte
hinzu: Da er doch nichts Wichtiges zu tun habe, sei es sein Plan, hier
Abhilfe zu schaffen.
Ich selber führte damals, ungeachtet
meiner Jugend, ein einsames Leben, darum verstand ich es, behutsam mit
einsamen Menschen umzugehen. Trotzdem beging ich einen Fehler. Eben wegen
meiner Jugend mußte ich an die Zukunft denken und an das Erhaschen
des Glücks.
Ich sagte, daß in dreißig
Jahren diese zehntausend Eichen großartig stehen würden. Er
entgegnete sehr schlicht: Wenn Gott ihm das Leben erhalte, werde er in
dreißig Jahren so viele gepflanzt haben, daß diese zehntausend
wie ein Tropfen im Meer seien.
Er studierte übrigens bereits die
Aufzucht der Buchen und hatte neben seinem Haus mit Bucheckern eine Pflanzschule
angelegt. Die Setzlinge, die er mit einem Gitter vor den Schafen geschützt
hatte, standen prächtig. Er denke ebenfalls daran, so sagte er mir,
etwas weiter unten Birken zu pflanzen, da es dort ein paar Meter unter
der Oberfläche Feuchtigkeit gebe.
Am folgenden Tag trennten wir uns.
Im Jahr darauf begann der Krieg von 1914,
in den ich fünf Jahre lang einbezogen war. Ein Infanteriesoldat konnte
nicht an Bäume denken! Um die Wahrheit zu sagen: Die Sache hatte keinen
Eindruck hinterlassen, ich hatte sie nur als einen Zeitvertreib betrachtet,
etwa wie eine Briefmarkensammlung, und vergessen.
Aus dem Krieg entlassen, befand ich mich
im Besitz einer winzigen Demobilmachungsprämie und hatte zugleich
ein großes Bedürfnis nach frischer Luft. Deswegen und
aus keinem anderen Grund machte ich mich in jene Einöden auf.
Das Land hatte sich nicht verändert.
Immerhin, oberhalb des verfallenen Dorfes entdeckte ich in der Ferne so
etwas wie einen grauen Nebel, der die Höhen wie ein Teppich bedeckte.
Seit dem Vorabend dachte ich wieder an den Hirten, der Bäume pflanzte.
«Zehntausend Eichen», sagte ich mir «nehmen wirklich
eine große Fläche ein. »
Ich hatte während dieser fünf
Jahre zu viele Menschen sterben sehen, als daß ich mir nicht Elzeard
Bouffiers Tod hätte vorstellen können - um so mehr, als man mit
zwanzig Jahren fünfzigjährige Männer als Greise betrachtet,
denen nichts mehr übrigbleibt als zu sterben. Er war nicht gestorben.
Er war sogar gut im Saft.
Er hatte seinen Beruf gewechselt. Er hatte
nur noch vier Schafe, aber dafür etwa hundert Bienenstöcke. Die
Schafe hatte er abgegeben, weil sie die Baumpflanzungen gefährdeten.
Um den Krieg, sagte er mir, habe er sich ganz und gar nicht gekümmert.
Er habe - und das konnte ich selber feststellen - unbeirrbar weiter gepflanzt.
Die Eichen von 1910 waren also zehn Jahre
alt und höher als ich und als er. Der Anblick war beeindruckend. Ich
war buchstäblich sprachlos, und weil er auch nicht redete, verbrachten
wir den ganzen Tag damit, daß wir schweigend im Wald herumgingen.
Der Wald erstreckte sich, in drei Abteilungen, in seiner größten
Ausdehnung elf Kilometer weit. Wenn man sich vergegenwärtigte, daß
dies alles von den Händen und dem Herzen dieses Mannes herrührte,
dann ging einem auf, daß die Menschen auch in anderer Hinsicht herrscherliche
Macht haben könnten wie Gott, nicht nur im Zerstören.
Elzeard Bouffier hatte seinen Plan weiterverfolgt.
Buchen, die mir bis zu den Schultern reichten, bewiesen es; sie hatten
sich ausgebreitet, so weit man schauen konnte. Die Eichen standen dicht
und waren über das Alter hinaus, wo der Wildverbiß ihnen etwas
anhaben konnte. Wenn die Vorsehung dieses Werk zerstören wollte, wäre
sie fortan auf Zyklone angewiesen.
Elzeard Bouffier zeigte mir wunderbare
Birkenhaine, die fünf Jahre alt waren; sie stammten also von 1915,
als ich in Verdun kämpfte. Überall, wo er zu Recht Feuchtigkeit
unter der Oberfläche vermutete, hatte er Birken gepflanzt; sie standen
zart und fest wie junge Mädchen.
Dieses schöpferische Werk schien
übrigens weiterzuwirken. Er kümmerte sich nicht darum. Er verfolgte
hartnäckig seine schlichte Aufgabe. Aber als ich in die Dörfer
hinunter kam, sah ich Wasser fließen in Bachbetten, die seit Menschengedenken
völlig trocken gewesen waren. Es war die großartigste Kettenreaktion,
die ich je zu sehen bekommen habe.
(In weit zurückliegender Zeit hatten
diese trocken gewesenen Bäche schon einmal Wasser gehabt. Einige der
traurigen Dörfer, von denen ich zu Beginn meines Berichtes gesprochen
habe, hatten an Plätzen gestanden, wo früher gallo-römische
Siedlungen gewesen waren. Bei den vorhandenen Spuren hatten Archäologen
den Boden durchforscht und Angelhaken gefunden an Orten, wo man sich im
20. Jahrhundert mit Zisternen behelfen mußte, wenn man ein wenig
Wasser haben wollte.)
Auch der Wind verstreute manche Samen.
Gleichzeitig mit dem Wasser gab es auch wieder Kopf- und Trauerweiden,
Wiesen, Gärten, Blumen und eine gewisse Lebensgrundlage.
Die Veränderung ging so langsam vor
sich, daß man sich an sie gewöhnte, ohne erstaunt zu sein. Die
Jäger, die in diesen einsamen Gegenden nach Hasen oder Wildschweinen
jagten, hatten wohl das Sprießen junger Bäume beobachtet, aber
sie hatten es irgendeiner Laune der Natur zugeschrieben. So ist es zu erklären,
daß niemand das Werk dieses Mannes störte.
Wenn jemand eine Ahnung davon gehabt hätte,
wäre es vielleicht verhindert worden. Aber niemand hatte eine Ahnung.
Welcher Mensch in den Dörfern unten und in den Verwaltungen hätte
sich eine solche Ausdauer in schönster Selbstlosigkeit vorstellen
können?
Von 1920 an habe ich mindestens einmal
jedes Jahr Elzeard Bouffier besucht. Ich habe ihn nie wanken oder zweifeln
sehen. Freilich wer weiß: Vielleicht stand Gott dahinter! Ich
habe Elzeard Bouffiers Verdruß nicht nachgerechnet. Man kann sich
vorstellen, daß es bis zu einem solchen Gelingen viel Widrigkeit
zu überwinden galt. Um eine solche Leidenschaft zum Erfolg zu bringen,
mußte er verzweifelt kämpfen. Er hatte ein Jahr lang mehr als
zehntausend Ahorne gepflanzt. Sie gingen alle ein. Im nächsten Jahr
gab er die Ahorne auf, um auf die Buchen zurückzukommen, die noch
besser gediehen als die Eichen.
Um den außergewöhnlichen Charakter
dieses Mannes einigermaßen zu erfassen, darf man nicht vergessen,
daß sich alles in vollkommener Einsamkeit abspielte. So vollkommen,
daß Elzeard Bouffier gegen Ende seines Lebens die Gewohnheit zu sprechen
verloren hat. Oder sah er keine Notwendigkeit dafür?
Im Jahre 1933 bekam er den Besuch eines
staunenden Forstaufsehers. Dieser Beamte gab ihm die Weisung, doch ja draußen
kein Feuer zu machen, um das Gedeihen dieses natürlichen Waldes nicht
zu gefährden. Es sei nämlich das erste Mal - so sagte ihm der
ahnungslose Mensch , daß man einen Wald ganz von selber hervorsprießen
sehe.
Zu dieser Zeit pflanzte Elzeard Bouffier
Buchen, und zwar zwölf Kilometer von seinem Haus entfernt. Um sich
das Hin und Hergehen zu ersparen - denn er war jetzt fünfundsiebzig
Jahre alt -, faßte er den Plan, eine Steinhütte am Ort seiner
Pflanzungen zu bauen, was er im folgenden Jahr auch ausführte.
Im Jahre 1935 kam eine ganze Delegation,
um den «natürlichen Wald» zu besichtigen. Ein hoher Beamter
des Wasser- und Forstwesens war dabei, ein Abgeordneter, etliche Techniker.
Man redete viele unnütze Worte. Man beschloß, etwas zu unternehmen.
Glücklicherweise wurde nichts unternommen außer dem einzig Vernünftigen:
Man stellte den Wald unter Staatsschutz und verbot, hier Kohle zu brennen.
Denn es war unmöglich, nicht überwältigt zu sein von der
Schönheit dieser jungen Bäume in voller Kraft. Sogar gegenüber
dem Abgeordneten erwies sich die mächtig bezaubernde Wirkung!
Ich hatte einen Freund unter den Forstmeistern
der Delegation. Ich eröffnete ihm das Geheimnis. An einem Tag der
nächsten Woche machten wir uns zusammen auf die Suche nach Elzeard
Bouffier. Wir trafen ihn mitten in seiner Arbeit, zwanzig Kilometer vom
Ort der Inspektion entfernt.
Dieser Forstmeister war nicht umsonst
mein Freund. Er hatte einen Blick für den Wert der Dinge. Er war auch
verschwiegen. Ich bot die paar Eier an, die ich als Gastgeschenk mitgebracht
hatte. Wir teilten den Imbiß unter uns dreien, und einige Stunden
vergingen in stummer Betrachtung der Landschaft.
Die Seite, von der wir kamen, war bestanden
mit Bäumen von sechs bis sieben Meter Höhe. Ich dachte zurück
an den Anblick dieser Gegend im Jahr 1913: nur Wüste...
Die friedliche und regelmäßige
Arbeit, die frische Höhenluft, die Genügsamkeit und vor allem
die Heiterkeit des Herzens hatten diesem Greis eine schier feierliche Gesundheit
verliehen. Er war ein Streiter Gottes. Ich fragte mich, wie viele Hektar
Land er wohl noch mit Bäumen bepflanzen werde.
Vor dem Aufbruch machte mein Freund nur
einen kleinen Vorschlag zu bestimmten Arten, denen der Boden hier eigentlich
zusagen müßte. Er versteifte sich nicht darauf. «Aus dem
einfachen Grund», sagte er mir gleich nachher, «daß der
gute Mann von der Sache mehr versteht als ich. » Nach einer Stunde
Fußmarsch - der Gedanke hatte sich in ihm weiterentwickelt -
fügte er hinzu: «Er weiß viel mehr als wir alle. Er hat
den Großen Weg zum Glück gefunden. »
Es ist diesem Forstmeister zu verdanken,
daß nicht nur der Wald, sondern auch das Wohlergehen dieses Mannes
unter Obhut gestellt wurde. Er ernannte drei Forstaufseher zum Schutz und
versetzte sie derart in Furcht und Zittern, daß sie gegenüber
möglichen Bestechungsversuchen der Köhler fest blieben.
Eine ernste Gefahr drohte dem Werk einzig
im Krieg von 1939. Die Automobile wurden mit Holzgas betrieben; es gab
nie genug Holz. Man fing schon damit an, Eichen von 1910 zu fällen.
Aber die Bestände befanden sich so weit weg vom Straßennetz,
daß dieses Unternehmen sich als finanziell völlig unrentabel
herausstellte. Man gab es wieder auf. Der Hirte hatte nichts bemerkt; er
lebte dreißig Kilometer davon entfernt und führte friedlich
seine Aufgabe weiter, ohne vom 39er Krieg etwas zu wissen so wenig
wie von dem anno 14.
Ich habe Elzeard Bouffier zum letzten Mal
im Juni 1945 gesehen. Er war damals siebenundachtzig Jahre alt. Ich hatte
wieder den Weg durch die «Wüste» gewählt, aber jetzt
gab es, trotz der Zerrüttung, in die der Krieg das Land gestürzt
hatte, eine Autobusverbindung vom Tal der Durance ins Gebirge.
Dieser schnellen Beförderung schrieb
ich es zu, daß ich die Gegend meiner früheren Wanderungen nicht
nicht wiedererkannte. Es schien mir auch, als ginge die Fahrstraße
durch neue Ortschaften. Ich mußte den Namen eines Dorfes
erfragen, um sicher zu sein, daß
ich mich wirklich in der ehemals so verlassenen Gegend befand. Ich stieg
in Vergons aus dem Bus.
Im Jahre 1913 hatte dieser Weiler von
zehn bis zwölf Häusern nur noch drei Einwohner gehabt. Die waren
Halbwilde gewesen, die sich haßten, von der Jagd mit Fallen lebten,
in ihrer physischen und moralischen Verfassung fast den Menschen der Vorgeschichte
vergleichbar. Brennesseln hatten die verlassenen Häuser umwuchert.
Die Lebensbedingungen waren hoffnungslos gewesen. Für diese Menschen
war es nur noch darum gegangen, auf den Tod zu warten - ein Zustand, der
keineswegs die Tugenden begünstigt!
Das alles hatte sich verändert. Sogar
die Luft. Statt der trockenen und heftigen Winde, die mich früher
empfingen, wehte ein leichtes Lüftchen voller Wohlgerüche. Ein
Murmeln, ähnlich dem des Wassers, kam von den Höhen: es war der
Wind in den Wäldern. Und das Erstaunlichste: Ich hörte, wie Wasser
in ein Becken plätscherte. Ich sah, man hatte einen Brunnen gebaut,
der reichlich floß. Und, was mich am meisten rührte: Man hatte
vor etwa vier Jahren daneben eine Linde gepflanzt; sie war schon
recht stattlich. Das war ein untrügliches Symbol neuen Lebens.
Übrigens gab es im Dorf Vergons Anzeichen
eines Wirkens, das nur mit Hoffnung unternommen werden kann. Die Hoffnung
war zurückgekehrt! Man hatte die Ruinen weggeräumt, verfallene
Mauerreste abgebrochen, fünf Häuser aufgebaut. Der Weiler zählte
nun achtundzwanzig Bewohner, darunter vier junge Familien.
Die neuen Häuser, frisch verputzt,
waren von Gemüsegärten umgeben, in denen abwechselnd, aber schön
gereiht, Gemüse und Blumen wuchsen: Kohl und Rosen, Lauch und Löwenmäulchen,
Sellerie und Anemonen. Vergons war ein Ort geworden, an dem man gern wohnte.
Ich verließ Vergons und wanderte
zu Fuß weiter. Der Krieg war eben erst zu Ende gegangen und hatte
noch nicht wieder das volle Aufblühen des Landes erlaubt. Aber Lazarus
war dem Grab entstiegen. In den unteren Bereichen der Bergabhänge
sah ich kleine Felder mit auflaufender Gersten- und Roggensaat und am Grunde
der engen Täler grünende Wiesen.
Es bedurfte nur der acht Jahre, die uns
von jener Zeit trennen, damit das ganze Gebiet von Gesundheit und Wohlergehen
strahlte. Wo ich 1913 Ruinen gesehen hatte, stehen jetzt saubere Bauernhäuser,
die von einem glücklichen und angenehmen Leben zeugen. Die alten Quellen,
gespeist von den Regen und Schneefällen, die von den Wäldern
festgehalten werden, sprudeln wieder. Man hat Wasserkanäle angelegt.
In Ahornwäldchen gibt es neben jedem Haus einen Brunnen, der in einen
Teppich von frischer Minze überfließt. Die Dörfer sind
nach und nach wieder aufgebaut worden. Eine Bevölkerung ist aus der
Ebene, wo das Land teuer geworden ist, heraufgekommen und hat sich hier
niedergelassen
und Jugend, Aufbruchstimmung und Unternehmungsgeist mitgebracht.
Man begegnet in den Gassen wohlgenährten Männern und Frauen, Jungen und Mädchen, die gern lachen und wieder Spaß haben an ländlichen Festen. Wenn man zu den Neusiedlern die alte Bevölkerung hinzu zählt die ist, seit sie so gesund lebt, kaum wiederzuerkennen , so verdanken mehr als zehntausend Menschen ihr Glück Elzeard Bouffier.
Wenn ich bedenke, daß ein einziger
Mann, allein auf seine physischen und moralischen Kräfte gestellt,
genügte, um aus der Wüste dieses Gelobte Land erstehen zu lassen,
dann finde ich, trotz allem, das menschliche Dasein etwas Wunderbares.
Und wenn ich ausrechne, wieviel Beständigkeit,
Seelengröße, Eifer und Selbstlosigkeit nötig war, um bis
ans Ziel zu kommen, dann erfüllt mich eine unendliche Hochachtung
vor dem alten Bauern ohne Bildung, der ein Werk zu schaffen wußte,
das Gottes würdig ist.
Elzeard Bouffier ist im Jahre 1947 friedlich
gestorben im Altenheim von Banon